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Müde

Ich find den Begriff „Corona-müde“ schon SEHR zwei- bzw. vieldeutig. Dummerweise leiden nämlich all diejenigen im Bekanntenkreis, die im Frühjahr an Corona erkrankt sind, tatsächlich an einer ständigen, bleiernen Müdigkeit. Insofern ist die Formulierung für alle anderen, die das für sich in Anspruch nehmen, sich „Normalität“ zurück wünschen, ein bisschen oder besser fast schon auf skurrile Weise absurd …

Ein Gedanke, der mich gerade wirklich beschäftigt: Ja, die Politik versucht, auch diejenigen, die sich eben nicht an die sehr einfachen Regeln halten, irgendwie dazu zu bringen, andere nicht zu gefährden. Aber doch genau deshalb, weil sich, wie gerade geschrieben, einige nicht an die sehr einfachen und – zumindest mir so erscheinenden – Regeln halten: AHA+ L(+A) :

  • Abstand einhalten
  • Hygiene ernst nehmen (also Händewaschen gilt übrigens immer noch als recht probates Mittel – ich mein ja nur)
  • Alltagsmaske tragen
  • jetzt im Herbst/Winter wurde um regelmäßiges Lüften ergänzt
  • die Corona-Warn-App nutzen

Und ich bedanke mich hiermit bei allen, die sich wie ich daran halten.

Dummerweise erlebe ich gerade bei gar nicht mehr so wenigen Menschen in meinem Umfeld regelrecht asoziales Verhalten. Das geht von eigenen oder geteilten Hassreden in den sozialen Netzwerken über „Ich lasse mir nicht verbieten, zu feiern – wann, wie oft und mit wem ich will“ bis zu direkten, persönlich-verletztenden Angriffen auf „euch dumme Schlafschafe“, dass ich von meiner Anspannung diesen Verhaltensweisen gegenüber (und dem hoffentlich unmittelbar folgenden Entfreunden …) müde werde …

99. Geburtstag

Heute ist der 99. Geburtstag meiner Oma. Würde sie noch leben wäre heute die Bude voll, die ganze Großfamilie und sicherlich ein paar Repräsentaten der örtlichen Polit-Prominenz. Ist ja gerade Kommunalwahlkampf. Kann mich an einen der letzten Geburtstage erinnern, es muss wohl der 90. gewesen sein? Ein Geschenkkorb nach dem anderen. Ihr Kommentar war nur, dass sie das alles gar nicht wolle, auch nicht die vielen Blumen. Und sie saß dann etwas missgelaunt inmitten ihrer Gästeschar, viele, die sie nicht (mehr er)kannte. Nur bei einigen wenigen Gästen, da hat sie sich gefreut. Über ihren alten Schulfreund, der zum Ratschen vorbeigekommen ist. Und über ihre Schwester. Und den Herrn Pfarrer.

Mir schwirrte heute morgen beim Aufstehen die Frage durch den Kopf, was sie, die so viel in ihrem Leben erlebt hat, wohl von Dingen wie WiFi, Mobilfunk & Sozialen Netzwerken halten würde. Sie war eine sehr kluge Frau, gebildet, konnte im hohen Alter noch Gedichte aufsagen, die sie als Kind gelernt hatte. Sie hat während zweier Weltkriege gelebt, ihre Mutter früh verloren, wurde vom Vater sehr streng erzogen, war Teil einer großen Geschwisterschar. Von denen 4 zusammenblieben, nicht heirateten oder wegzogen, sondern zuhause gemeinsam den Hof bewirtschafteten. Sie selbst hat meinen Opa nach seiner Rückkehr aus dem Krieg geheiratet und zwei Kinder bekommen. Wohnte nur 15 Minuten Fußweg bergauf von ihrem Elternhaus. Das sie gerne und oft besuchte. Eigentlich jeden Sonntag hat sie uns Enkelkinder eingepackt und ist mit uns die Großtanten und -onkeln besuchen gegangen. Das war ihr soziales Netzwerk, persönlich gepflegt. Das Telefon war ihr zeitlebens suspekt, nur, wenn sie auf Kur war, dann hat sie das schon ganz gerne mal in die Hand genommen. Für kurze Anrufe, ist alles in Ordnung, geht es allen gut. Gut.

Die Kriegsgeneration hat viel erlebt. Aber wenig darüber gesprochen. Wäre das anders gewesen, hätten Sie Internet, Chatfunktionen, Blogs, etc. gehabt? Es gibt einige wenige, die ihre Erinnerungen zu Papier gebracht haben. Aber die große Masse hat es vorgezogen, zu schweigen. Ich vermute, um den Ängsten, dem Grauen, dem Erlebten eine Grenze zu setzen. Sobald man darüber spricht werden Erinnerungen wieder lebendig. Und die Generation meiner Oma wollte das nicht noch mal und noch mal und noch mal durchleben. Jeder hatte seine eigene Geschichte. Und manchmal finde ich schade, wie wenig ich von ihrem Leben weiß. Weil sie vorgezogen hat, nicht viel zu erzählen. Ich akzeptiere, dass sie in der Gegenwart gelebt hat, statt in der Vergangenheit …