Weil ich jetzt auch schon mal darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ich Begriffe wie „vormals“ oder „früher“ in einem quasi abgeschlossenen Kontext mit der bezaubernden Nichte verwende: bitte nicht missverstehen. Es gibt unverändert die kleinen Momente, in denen sie nichts als bezaubernd ist. Man mit ihr sprechen, sich austauschen, eine Kommunikation mit ihr führen oder einfach gemeinsam schweigen kann. Und dann ist das auch alles genau in Ordnung, so wie es ist. Also der Nichten-Tanten-Kontakt passt schon auch oft.
Nur eskaliert die Situation – wie wohl bei jedem Pubertier – eben aktuell auch mal. Sie ist manchmal richtig ätzend. Oder ist mir gegenüber auch einfach und schlicht unfair. Und ich bin eben nicht die Mama, die das alles mit einer schier unfassbar stoisch-bewundernswerten Geduld aushält. Mir fällt’s schwer, mit dieser jugendlichen Ungerechtigkeit (mir und anderen gegenüber) umzugehen. Und manchmal könnte ich da einfach nur genauso zurückätzen …
Ich bemühe mich – und hoffe, dass das, was wir uns aufgebaut haben, auch diese Phase übersteht. Ich bin tendenziell zuversichtlich …
Witzig ist dieser Perspektivenwechsel zwischenzeitlich nur noch selten. Tatsächlich stehe ich ältestes Kind mittlerweile meistens kopfschüttelnd und mit durchdringendem Unverständnis neben der Szenerie, die von der vormals so bezaubernden Nichte und ihrem pubertierenden Verhalten dominiert wird. Und kann über so vieles nicht einfach schweigen.
Vor allem, wenn sie die mittlere Schwester einfach nur grob anfasst. Oft grundlos. Noch mehr, wenn sie die kleinste Schwester so lang ärgert und anstachelt, bis diese im wahrsten Sinn des Wortes umfällt und sich dabei weh tut … Und immer dann, wenn alles so unfassbar vorhersehbar ist, man vor den Folgen in exakt der Reihenfolge gewarnt hat und sie es zum Schaden der jüngeren Schwestern doch auf die Spitze treibt, kommt dann dieses dümmlich hingekicherte „Oupsi!“
Und das ist für mich echt am schwersten auszuhalten. Sie ist nämlich nicht nur intelligent, sondern oft auch ein bisschen arrogant und überheblich. Fühlt sich ne ist in vielerlei Hinsicht superschlau. Und trotzdem eben offensichtlich nicht, weil dann wäre ihr Verhalten ja sogar mit Vorsatz … und das ist es doch ganz bestimmt nicht. Bitte nicht …!
Aber wie gut ich aus heutiger Perspektive verstehe, was meine Umgebung in meinen Teenagerzeiten aushalten musste. Wobei ich für meinen Teil am liebsten cool mit den Freunden und damit einfach fern der nervigen Geschwister war und deshalb weniger unmittelbar verletzen konnte…
„Das nervt, sooooo, immer darf ich nicht, hhhhhhh, So ein Kack!“ motzt das älteste Nachbarsmädel. Schon seit Tagen geht das so. Paula steht auf der anderen Zaunseite und wedelt mitfühlend mit dem Schwanz. Wie gut sie die Große verstehen kann. Der zweite Winter mit lauter Einschränkungen, immer muss sie vernünftig sein, immer beachtet sie alle Vorgaben, immer passt sie auf – und dann das: da dummerweise ja auch ihr Geburtstag im Winter liegt hatte sie ja sowieso was ganz anderes geplant. Alles draußen, draußen eine Geocache-Suche mit einem Schatz, draußen ein bisschen basteln, draußen grillen und essen. Und nicht mal 11 Freundinnen eingeladen – aber jetzt. „Der Satz mit X, wieder nix. Das ist sooooo zum Kotzen.“
Ja, nicht nur Paula hat Verständnis für die blöde Situation. Alle, Mama, Papa, die Schwestern … jeder möchte ihr zum Geburtstag einfach nur eine riesengroße Freude machen. Aber in dem Alter wäre halt schon schön gewesen, nicht nur mit der Familie und so … Am Geburtstag geben sich alle deshalb besonders viel Mühe. Paula hat mitbekommen, dass die beiden kleinen Schwestern immer wieder mit Mama und Papa und sogar mit der Tante Ideen diskutiert haben. Richtig gute Ideen, ein paar können auch unter den aktuellen Bedingungen stattfinden.
Und deshalb wird es ein freudestrahlender Tag, so viele kleine Überraschungen, so viele liebevolle Worte, weil alle das älteste Nachbarsmädel einfach sooooo lieb haben. Am Abend steht die jetzt 11jährige lächelnd im Garten und erzählt Paula von ihrem Tag. Heimlich natürlich, denn immerhin ist sie jetzt 11 und da soll keiner mitbekommen, dass sie mit Tieren quatscht. Und Paula verrät es auch keinem weiter, versprochen.
Manchmal kann ich nicht glauben, dass es wirklich schon 10 Jahre sind, die wir zwei uns kennen dürfen. Dann wieder hab ich Millionen von Erinnerungen und denke: echt? So viel gemeinsam erlebt? In nur 10 Jahren? Wow. Die ersten sechseinhalb Jahre war ich „nur deine“ Tante, ganz exklusiv. Mittlerweile teilst du mich. Manchmal ganz gern, manchmal weniger. Das, was nur wir zwei miteinander erlebt haben und immer mal wieder „nur uns“ passiert, das kann uns keiner nehmen. Wir sind und bleiben ein Chaos-Team. Schön ist es, was wir haben. Deine Schwestern bereichern uns – nicht immer, aber immer öfter 😉
Jetzt bist du 10 geworden. Ein Meilenstein. Das Jahrzehnt mit dem Wachsen und in Siebenmeilenstiefeln groß werden liegt hinter dir. Was hast du alles gelernt, wie toll hast du dich entwickelt. Du bist noch so viel Kind, zur Hälfte aber bestimmt auch Teenager. Trotzphase und Pubertier sind schon sehr ausgeprägt, aber unwahrscheinlich oft darf ich dich vor allem so reif erleben. Und das macht mich glücklich.
Meine große bezaubernde Nichte, ich mag, dass du ganz oft ganz verkuschelt und Kind bist. Dass du dein Kuscheltiere zwar mit deiner kleinen Schwester teilst, es aber doch meistens bei dir im Bett liegt. Manchmal bist du ein richtiger Kindskopf – an wen mich das nur erinnert? Aber ich erkenne schon sehr viel von deinem möglichen erwachsenen Ich. Das sich das Kind erhalten darf und soll. Und darauf freu ich mich. Ja, ich freu mich, deine nächsten spannenden Jahre zu begleiten. Hoffe, dass ich weiterhin ein Stück weit mit dir Kind bleiben, öfter mal ein bisschen Teenager sein und auch in den erwachsenen Momenten begleitend dabei sein darf.
Es ist dein erster Geburtstag, den wir nicht zusammen verbringen. Um euch rum ist ein zu hohes Virusgeschehen. Auch wenn ihr gesund seid ist es mir durch die geltenden Bestimmungen nicht erlaubt, euch einfach nur zu besuchen … mir fällt das am schwersten. Aber ich kann nicht immer auf all diejenigen sauer sein, die sich an nichts halten und damit Infektionszahlen erhöhen. Um dann selbst gegen die geltenden Vorschriften zu agieren. Wir haben das besprochen, ich finde es trotzdem nicht schön. Aber ich hoffe auf Weihnachten. Und wir haben ein virtuelles Geburtstags-Treffen. Mal sehen, was wir da alles anstellen …?
Alles Liebe und eine riesengroße Geburtstags-Umarmung für dich, du große 10jährige, die doch grad noch als kleiner Stöpsel an meiner Tanten-Hand gelaufen ist – die Rolle dürfen jetzt die kleinen Schwestern übernehmen, die auch viel zu schnell sooooo groß werden ❤️