Gerade verabschieden sich meine Eltern gefühlt von einer Reihe langjähriger Weggefährten. Ein Nachbar, drei Freunde aus Schulzeiten, der Ehemann einer alten Bekannten und ein früherer Geschäftsmann haben in einer Woche ihre letzte Reise angetreten. Das bringt Gedanken an die eigene Sterblichkeit, aber auch Erinnerungen mit sich. „Wenn altgewordene Menschen sich darauf zu besinnen suchen, wann, wie oft und wie stark sie Glück empfunden haben, dann suchen sie vor allem in ihrer Kindheit, und mit Recht, denn zum Erleben des Glückes bedarf es vor allem der Unabhängigkeit von der Zeit und damit von der Furcht sowohl wie von der Hoffnung, und diese Fähigkeit kommt den meisten Menschen mit den Jahren abhanden.“ (Hermann Hesse)
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Das mit der Angst
Es gibt Gedankengänge und Themen, die Kinder bewegen, da weiß man als Erwachsener Null, wie man sich verhalten soll. Muss man, darf man, kann man, soll man sogar …? So ein unsicheres Terrain ist die Angst, sind die Furcht und das maßlose Leid meines großen Patenkindes. Anstatt den Moment zu genießen durchlebt er Trauer. Weil der Moment flüchtig ist, vergehen wird. Er würde gern festhalten, schöne Dinge für die Ewigkeit haben. Und ihn bewegt dabei etwas, das nur schwer zu verstehen oder gar nachvollziehbar geschweige denn vorhersehbar ist, denn vor lauter Angst davor, dass es bald vorbei ist, überkommt ihn die Trauer mitten im Schönen. Und macht das Schöne zunichte. Nicht nur für ihn, sondern auch für die Menschen, die den Augenblick mit ihm teilen. Ihm zerreißt es das Herz, er leidet, sehr tief, und ihn so zu sehen ist herzzerreißend …
Am schlimmsten ist, dass er mit seinen noch nicht mal 10 Jahren Angst vor dem Vergessen hat. Er will sich an alles erinnern. Und was sagt man darauf? Wie kann man ihn ermutigen, ihm klarmachen, dass er erleben muss, um sich überhaupt erinnern zu können? Er war an diesem Wochenende vielfach so traurig, dass es mir Angst gemacht hat, ihn so zu sehen. Aber wenigstens für einen Teil seiner Ängste haben wir gemeinsam einen Weg gefunden. Er hat begonnen, Tagebuch zu schreiben. Ab sofort wird er, statt traurig zu sitzen und im Leid versinken, einen Stift nehmen, um aufzuschreiben, was ihn glücklich gemacht hat. Um genau dieses nicht zu vergessen, es später nachlesen zu können. Ich hoffe, das tut er auch.
Und ich hab ihm erklärt, dass auch ich mit diesem Blog begonnen habe, um einen Ort für unsere gemeinsamen Erinnerungen zu schaffen, damit sie nicht vergessen werden. Für später, wenn andere Erinnerungen dazugekommen sind, viele kleine, viele große. Und wer weiß, was dann im Gedächtnis haften blieb? Auch das hat ihm ein kleines bisschen Hoffnung und Zuversicht geschenkt (und ich hab von ihm einmal mehr die Bitte und den Auftrag, das weiterhin zu machen, also den Blog auch für ihn weiterzuführen, „auch wenn da mal was Peinliches stehen sollte“. Gut, genau das will ich nicht, aber trotzdem gut, dass wir mal wieder drüber gesprochen haben). Und ich hoffe so sehr, dass er seinen Weg findet, damit er die Freude des Augenblicks erlebt.
Traurigkeit bei Kindern ist nichts, was sie allein meistern können. Auch wenn man als Erwachsener sehr hilflos ist, bin ich überzeugt, dass man nicht wegsehen darf. Sondern umarmen, trösten, da sein und helfen muss, mit Liebe, Zuversicht und Sicherheit … Und unter Umständen auch Unterstützung suchen muss. Denn hinter einer Traurigkeit kann sich auch eine Depression zeigen, ich habe diesen Arikel sehr gründlich gelesen, vor allem diesen Absatz:
„Kleine Kinder drücken ihre Gefühle eher durch Verhalten als durch Worte aus. Statt in den klassischen Symptomen wie Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit, zeigt sich eine Depression bei Kindern manchmal in Form von Wutausbrüchen, starkem Weinen oder ständigem Anklammern an die Eltern. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem die Kleinsten eine Depression als „Bauchweh“ oder „Kopfweh“ beschreiben, weil ihnen noch die Fähigkeit fehlt, Niedergeschlagenheit zu benennen. Eltern und Ärzte geraten damit auf eine vollkommen falsche Fährte. Je älter die Kinder sind, desto mehr entsprechen ihre Symptome denen von Erwachsenen. Doch auch bei Jugendlichen gilt es gut zu differenzieren. Denn in der Pubertät können Traurigkeit und Verzweiflung Teile einer normalen Entwicklung sein, die nach einiger Zeit wieder verschwinden. Dennoch müssen sie ernst genommen werden.“
Glaubenssatz
Mein mittleres Patenkind hat viele Freunde. Im Kindergarten und in der Nachbarschaft. Sie ist sehr glücklich darüber, das hat sie gestern ihrer Mama freudestrahlend erzählt. Denn auf die Weise wird sie weiterleben, auch wenn sie einmal sterben sollte.
Diesen Glaubenssatz hat sie aus einer Religionsstunde abgeleitet, in der besprochen wurde, dass Jesus am Kreuz sterben musste. Die vielen Menschen, die ihn geliebt haben und Erinnerungen an ihn in Erzählungen lebendig halten, lassen ihn weiterleben. Das Wissen, dass sie Freunde hat, die sie lieben und sich an sie erinnern werden, beruhigt sie, erfreut sie von ganz tief innen heraus und schenkt ihr eine tiefe Zufriedenheit und Gelassenheit.
Und damit teilt sie eine wichtige Erkenntnis mit mir: Erinnerungen an die Menschen, die wir lieben, sind so wichtig. Bitte vergesst das gemeinsame Erleben nicht, erst wenn Menschen totgeschwiegen werden, sterben sie und ihre Geschichten endgültig … Den Impuls für meinen Glaubenssatz haben mir übrigens diese kurzen Zeilen gegeben, über die ich zu Teenagerzeiten viel nachgedacht habe: „O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“ (Tagebucheintrag von Anne Frank am 5. April 1944)
[Liebe Mademoiselle, ich habe lang mit mir gerungen, denn du hast gestern empört geschimpft, weil deine Mama mir dein Glücksgefühl verraten hat, obwohl du es ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten hast. Ich liebe deinen Gedanken zu sehr und befürchte, dass wir ihn alle vergessen könnten, als dass er hier nicht für später festgehalten werden sollte. Ich hoffe, du kannst uns, also deiner Mama und mir verzeihen? Und vielleicht freust du dich später sogar mal über diesen kleinen Glaubenssatz – und er kann dir weiterhelfen? Das wünsch ich dir sehr!]
Spruch zum Wochenende: Der Wert der Kindheit
„Jeder Mensch gedenke immer seiner Kindheit! Das ist möglich. Denn er hat ein Gedächtnis. Die Kindheit ist das stille, reine Licht, das aus der eigenen Vergangenheit tröstlich in die Gegenwart und Zukunft hinüberleuchtet. Sich der Kindheit wahrhaft erinnern, das heißt: plötzlich und ohne langes Überlegen wieder wissen, was echt und falsch, was gut und böse ist. Die meisten vergessen ihre Kindheit wie einen Schirm und lassen sie irgendwo in der Vergangenheit stehen. Und doch können nicht vierzig, nicht fünfzig spätere Jahre des Lernens und Erfahrens den seelischen Feingehalt des ersten Jahrzehnts aufwiegen. Die Kindheit ist unser Leuchtturm.“
(Erich Kästner)