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Mein Herz tanzt #5

Wenn es wieder mal in die bei mir nicht beliebte Olympiahalle geht. Wenn man ohne Erwartungshaltung in ein Konzert einer Band „unserer aller Jugend“ geht. An Allerheiligen in der Weltstadt mit Herz, Hochburg des Bayernlands, wo in meinen Jugendtagen striktes Tanzverbot am hochkatholischen Feiertag herrschte … wenn die Vorband so grottenschlecht ist, dass man als Nichtraucher gerne draußen im Dunst steht, um sein Gehör zu schützen. Wenn dann Musiker über 50 auf die Bühne hüpfen und uns und unsere Herzen zum Tanzen bringen.

Mit uns meine ich nicht nur die Konzertfreundin und mich, sondern auch fast jeden der Besucher in der riesengroßen Halle. Ab der ersten Minute, als Flea mit einem Move auf die Bühne hüpfte. Waren wir am Start. Dann kommt das Geburtstagskind du jour dazu, an seinem 54. Geburtstag rockt Anthony Kiedis mit uns. Und wie. Mit seiner Stimme, die so besonders ist. Anders. Weich. Männlich. Sich so perfekt einfügt in die Musik. Geht tief unter die Haut. Weniger ein Gänsehautgefühl, es ist vielmehr dieses  „so fühlt es sich an“. Auf die Backgroundsängerin, die sich öfter mal einmischte, hätte ich gut verzichten können. Auf Joshs Gitarristensolo-Cover zu „Heroes“ dagegen nicht, auch nicht auf die Jam-Sessions vor Chads Schlagzeug.

Ich bin nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, auch Mr. Kiedies hat seinen Geburtstagsabend gerne mit uns gefeiert? Am Ende fiel es dem so bunt gemischten Publikum, da war vom Spießer zu Rocker, vom Teenie mit Papa bis zur Harleygang im gesetzten Alter alles dabei, sichtlich schwer, die Jungs von der Bühne gehen zu lassen. Und das vollkommen geflashte Konzertfreundinnen-Dreamteam schwebte tänzelnd dem Ausgang zu … im Kopf auch ein Dankeschön an die Band, dass sie fit sind, rocken. Sicher ist vieles einstudiert, aber trotzdem kam bei mir nicht eine Sekunde kein Gefühl an. Im Gegenteil, sie fühlen sich gut an, die Red Hot Chili Peppers auf ihrer Tour 2016.

Can’t stop, Under the Bridge, Californication, Suck my kiss, Give it away, By the way … weil ich seitdem einige Ohrwürmer habe, teile ich einen – damit eure Herzen mit meinem rocken, äh tanzen, dürfen 😉

Dann muss noch eine Anekdote festgehalten werden: unser Platz war der Allerbeste, nicht in der Front, sondern in der Last Row. Und zwar exakt mittig zur Bühne. Alles im Blick. Kein Wunder, dass neben uns unzählige Selfies gemacht wurden? Immer der Versuch, sich selbst und die leere, sehr minimalistisch gehaltene Bühne im Hintergrund ins beste Licht zu rücken? Bei einer süßen Blondine scheint es trotz wirklich bezauberndem Lächeln nicht geklappt zu haben? Wir haben sie bestimmt 15 Minuten lang in immer neuen Posen neben uns abdrücken gesehen … am Ende sehr angestrengt.

Und ebenfalls in Erinnerung bleiben soll mir ein Mann in Lederjacke, der mindestens 90 Minuten links neben uns abgerockt hat, vollkommen mit der Band und in ihre Musik versunken – mit einem verzückten Lächeln im Gesicht. Einfach nur glücklich. Da war so viel positive Energie im Raum. Hach, mein Herz tanzt weiter, so viel schöne Momente hat es abgespeichert …

Sonnentag

An einem Tag wie heute geht man gern zum Friedhof. Farbenfroh mit warmen Sonnenstrahlen find ich den alljährlichen Besuch der Gräber schön. Auf dem kleinen Buchsbaum am Familiengrab saßen unzählige Marienkäfer im Sonnenbad. Alte Freunde sehen, selten gewordene, deshalb so kostbare Momente. Den Onkel drücken, der kürzlich mehr Glück als Verstand hatte, die schmerzhafte Kraft eines Stahlseils zu spüren bekommen hat. Und schon wieder einen frechen Spruch auf den Lippen hat. Zum Glück! Später durfte ich auf der Fahrt zur besten Freundin in der Spätnachmittagsstimmung die Föhn-Alpenkette, in den Tälern ein paar erste Nebelschleier bewundern. Eben sind wir bei Halbmond unter klarem Sternenhimmel durch die Kleinstadt gebummelt. Viele Veränderungen – und manches bleibt, wie es immer war.

Feiertag

Heute war Feiertag. Ob denen, die sich über den freien 1. November freuen (und motzen, wenn der freie Tag aufs Wochenende fällt) bewusst ist, wohin die Massen an Menschen auf Deutschlands Straßen an diesem Tag unterwegs sind? In meiner Familie wird Allerheiligen ganz katholisch begangen. Wir gehen in die Kirche, anschließend ans Familiengrab, gedenken gemeinsam den verstorbenen Familienmitgliedern. In der Generation meiner Eltern ist es vollkommen selbstverständlich, für die jährliche Fahrt ans Familiengrab auch große Strecken zurückzulegen. Merkt man übrigens auch, wenn man auf die vielen nicht ortsansässigen Autokennzeichen achtet, die über Land fahren.
Als Nebeneffekt treffen sich auf dem Land alte Freunde und Bekannte aus dem Dorf. Das hat manchmal ganz witzige Aspekte, wenn die Freude über das Wiedersehen die uns schon von Kindesbeinen anerzogene Was-Sich-In-Der-Kirche-Gehört-Etikette überwiegt. Und peinlich berührte Köpfe sich vollkommen unschicklich umdrehen, neugierig gaffen. Klar, jeder will sehen und gesehen werden… In meinem Heimatort gibt es ein paar amüsante Rituale, meiner Meinung nach zu meiner persönlichen Belustigung erfunden. Auch wenn die Protagonisten oft gar nicht merken, dass ich sie mitbekomme: zum Beispiel bemühen sich die Ministranten Jahr für Jahr, einen von ihnen mit einer Kerze anzuzünden. Obwohl die Mitwirkenden über die Jahre gewechselt haben und die Kleinen nachgerückt sind, das Spiel belustigt mich und meinen Bruder seit vielen Jahren. Dazu versuchen sich die geistlichen Herrn alljährlich an einer sinnvollen Predigt. Angesichts der Thematik des Sterbens und des Glaubens an die Auferstehung keine einfache Herausforderung. Der Pfarrer im Ruhestand von heute hat versucht, über Sicherheit in Zeiten wachsenden Terrorismus‘ in der Welt zu sprechen. In der Schulsprache hätte man mit einem ungenügend oder einer Themaverfehlung zurück auf seinen Sitzplatz geschickt.
Für mich gehört Allerheiligen seit meiner frühesten Kindheitserinnerung zum kirchlichen Jahr. In mein Elternhaus kam am 1. November eine große Schar Verwandtschaft. Dazu, und das ist denke ich eher ungewöhnlich, die Nachfahren der Flüchtlingsfamilien, die nach dem 2. Weltkrieg bei meinen Urgroßeltern untergebracht waren. Als Kinder haben wir diese zusätzlichen Besucher hoch geschätzt, brachten sie doch immer Schokolade für uns Kinder und alte Geschichten mit. Ihre Mutter bzw. Großmutter wurde in unserem Familiengrab begraben. Da außerdem eine der 3 Schwestern in den Nachbarort geheiratet hat nutzten 2 der Schwestern Allerheiligen für den Grabbesuch und das Wiedersehen mit der Schwester. Das sorgte dafür, dass unser Haus voll war, gutes Essen serviert wurde und der Erzählfluss nie versiegte.
Den Teil mit dem Gräberrundgang fand ich als Kind abwechselnd langweilig oder erschreckend. Ruhig stehen, beten, ernst bleiben, nicht zappeln, keine Fragen stellen, gähn …. In anderen Jahren waren frische Gräber, jemand war gerade erst gestorben. Und irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl, quasi direkt neben einem frisch begrabenen Toten zu stehen. Schon erwachsen wäre ich übrigens bei dem ganzen Gedränge beinahe ins frisch ausgehobene Familiengrab gefallen, in dem wenige Tage später meine Oma bestattet wurde. Ich hab laut gelacht und rundum musste der ein oder andere auch herzlich loslachen. Makaber, aber ganz bestimmt lustig.
Vor allem in meinen wilden Teenagertagen habe ich mich mit allen Vieren gegen Allerheiligen gesträubt, rebelliert gegen das katholische Müssen und gemotzt über das Nicht-Darüber-Diskutieren-Bereitsein meines Vaters. Heute mache ich es einfach, gehe zum offiziellen Totengedenktag, stehe in der Kirche, stehe am Grab. Und beobachte in Ruhe. Die Zeit lässt sich gut zum Nachdenken nutzen. Und ich genieße, dass auch heute noch ein Teil der Familie in meinem Elternhaus zusammenkommt. Es wird weniger. Insofern nehme ich die Geschichten mit, solange sie erzählt werden.