Erinnerungstag


Wir gehen in meiner Familie „gut“ mit unserem Verlust um. Sprechen, tauschen Erinnerungen lebendig aus, sind offen, lachen oft gemeinsam. In der Ecke des Küchentisches steht ein Bild meiner verstorbenen Schwester. Sie ist jung gestorben, aber wir behalten sie in unserer Mitte – ein Stück weit lebendig. Für uns ist das normal, es gehört zu unserem Leben. Für Außenstehende mag es manchmal sonderbar anmuten. Da ich selbst mit gelebter Erinnerung schon immer besser klarkomme, als mit Totschweigen, kann ich auf Irritation in solchen Situationen gut eingehen. Und ich habe bislang niemanden erlebt, der nach Erklärung gar nicht damit umgehen konnte. Im Gegenteil.
Heute ist ihr Geburtstag, 35 Jahre wäre sie geworden. Ich stelle mir nie die Frage, wie sie heute wohl wäre. Tief in mir drin bin ich überzeugt, dass sie sich nicht sehr verändert hätte. Natürlich wäre sie 15 Jahre älter, aber ihr Wesen, ihr so liebevoller Charakter, hätte sich einfach mit ihr und den Jahren weiterentwickelt. Wo und wie sie leben würde, das hätte sich aus ihren Erlebnissen in diesen 15 Jahren ergeben.
Jeder in unserer Familie hat seine eigene Verlustgeschichte, irgendwie haben wir es trotzdem gemeinsam geschafft, ihren Tod zu verarbeiten. Und daraus haben wir familiäre Traditionen gebildet. Zu denen auch der unkomplizierte Umgang mit Erinnerungstagen gehört, also Geburtstag und Todestag.
Insofern hab ich heute morgen eine frühlingshafte Autofahrt durch die Heimat gemacht, um bei ihrer alten Freundin, die mittlerweile einen süßen, kleinen Laden betreibt, ein paar Blümchen zu besorgen. Dieses Jahr passend zum Wetter einen kunterbunten Frühlingsstrauß. Den meine Mama am Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein zum Grab gebracht und an der besten Stelle platziert hat. Auf dem Friedhof trifft sie immer jemanden zum Ratschen, sie fühlt sich dort wohl, kümmert sich liebevoll um die Grabgestaltung. Das hilft ihr und meinem Vater.
Wir Geschwister haben andere Wege. Jeder so, wie er es am besten findet. Genau wie sie sich immer einen eigenen Weg gesucht hat. Sie war besonders. Nicht nur für mich. Auch ein Grund, warum wir sie niemals totschweigen werden.

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„Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar.“
(Astrid Lindgren)

23 Kommentare zu „Erinnerungstag“

  1. Es ist immer schwer jemanden zu verlieren, egal wie jung oder wie alt derjenige war. Extrem schlimm aber, wenn dieser Mensch noch sein Leben vor sich hatte. Ich finde es schön, daß jeder von Euch seine bestimmte Art hat damit umzugehen. Und egal wie lange der Mensch, also deine Schwester nicht mehr da ist, wird sie doch immer präsent sein.
    Liebe Grüße
    Doro

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  2. totschweigen finde ich ein krasses wort – wer tut schon so etwas, ich denke niemand!

    ich habe meinen ( wahninnig geliebten ) vater vor 7 jahren, meine mutter vor 6 jahren verloren – manchmal ertappe ich mich dabei wie ich zum tel. greife weil ich einen von ihnen anrufen möchte ❤️

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    1. Totschweigen ist ein krasses Wort und ein sehr absurder Gedanke, aber leider gibt es Familien, in denen ein verstorbenes Kind nicht erwähnt werden darf. Bekannte meiner Eltern haben nur ein einziges Mal mit meinen Eltern über ihre vertorbene Tochter gesprochen, unmittelbar nach dem Tod meiner Schwester. Als meine Mutter später noch mal darauf zurückommen wollte hat sie eine ausgesprochen rüde Antwort bekommen – und die klare Ansage, dass das nichts sei, worüber geredet werden solle … Unverständlich, aber eben deren Form, damit klarzukommen.
      ❤️

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  3. Es gibt im Leben für alles eine Zeit,
    die Zeit der Freude, der Stille, der Trauer…

    aber die Zeit der schönen und dankbaren Erinnerungen ist die BESTE.

    Ein ganz toller Weg den du und deine Familie da gehen.

    Herzliebe Grüsse
    Uschi

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  4. Eine schöne Art, einen lieben Menschen in Erinnerung zu behalten. Befremdlich ist das nur für jemanden, der nie solche Menschen verloren hat. Darum werden die meisten diese Tradition verstehen.

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  5. Offen damit umzugehen, finde ich auch viel besser. Etwas totschweigen lässt alles nur schlimmer werden. Es tröstet, wenn man mit anderen über den geliebten Menschen reden kann. Zumindest war es bei mir so. ♥
    Ganz herzlich Grüße zu dir ♥
    Martina

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